„Exzellenter Aufsichtsrat: Der lange und schwierige Weg zum Meister des Metiers“

Die aktuelle Fassung des Deutschen Corporate Governance Kodex verpflichtet Vorstand und Aufsichtsrat unter anderem auf ein ethisch fundiertes, eigenverantwortliches Verhalten. Dieses Prinzip sollte allerdings in ein weit größeres Verständnis der Hintergründe moralischen Handelns münden, als dies in der jetzigen Diskussion zum Ehrbaren Kaufmann sichtbar ist. Was sollten Aufsichtsräte dazu notwendigerweise wissen? 

I. Was soll ich tun? 
Im Zuge der aktuellen Diskussion um die Vorkommnisse in der Automobilindustrie stellt sich wieder einmal die Frage nach der ethischen Kompetenz der Führungsorgane. Insbesondere auch der Aufsichtsrat mit seiner gewollten Heterogenität und Distanz zum Tagesgeschäft und obwohl er in aller Regel mit hoher individueller Sachkompetenz ausgestattet ist, muss sich der Kritik stellen. Es hat den Anschein, dass er der Forderung nach einem auf das langfristige Wohlergehen des Unternehmens verpflichteten Handeln nicht immer ausreichend gerecht wird und damit langfristiges zukünftiges Wachstum, Profitabilität und hohe Wettbewerbsfähigkeit, in Summe die Prosperität des Unternehmens, gefährdet.

Eine Grundfrage der Ethik lautet: „Was soll ich tun?“ Wenn über Ethik im Zusammenhang mit dem Aufsichtsrat gesprochen wird, dann betrifft dies meist die Auseinandersetzung mit dem richtigen, dem moralischen Handeln. Jedes noch so erfahrene Aufsichtsratsmitglied kennt das bedrückende Gefühl, auf Basis unvollständiger Informationen, unter Zeitdruck und angesichts von Dilemmata wichtige Entscheidungen treffen zu müssen. Neben ihrer Komplexität, Dynamik und Vernetzung zeichnet derartige Situationen eben auch die Unverträglichkeit verschiedener Zielfunktionen aus. Was kann nun weiter getan werden, um dem individuellen Aufsichtsratsmitglied und dem Organ als Gesamtkollektiv zu helfen, für eine nachhaltige Prosperität des Unternehmens systematisch bessere Entscheidungen zu treffen? Eine hier vorgebrachte These ist, dass insbesondere jenseits des Bereichs der individuellen Fachkompetenz Nachholbedarf existiert und es guttut, mehr auf die Denkprozesse von denjenigen Menschen zu fokussieren, die im Rahmen eines Unternehmens zusammenwirken. Warum ist es immer wieder zu beobachten, dass Unternehmen mit gleichartigen Geschäftsmodellen ganz unterschiedliche Kulturen haben, ohne dass Erfolg und Misserfolg damit eindeutig korrelieren?

II. Vorgaben in der Präambel des DCGK 
Die Präambel des Deutschen Corporate Governance Kodex verpflichtet die Lenkungsorgane der börsennotierten Kapitalgesellschaften im Sinne einer Best Practice auf drei Maximen. Diese außerhalb der Kodexempfehlungen stehende Erklärung skizziert einen Rahmen, der in großen Teilen allerdings schon im AktG und im HGB oder in unserer Wirtschaftsordnung vorgegeben ist.

Erstens bezieht sich die Präambel auf bereits bestehende Regelungen im Aktiengesetz (z.B. §§ 76 und 93), in denen die Verpflichtung des Vorstands kodifiziert ist, Entscheidungen zum Wohle des Unternehmens zu treffen. Damit sind nach juristischer herrschender Meinung der Bestand und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft angesprochen. Zweitens sollen sich Unternehmensleitung und Aufsichtsrat an den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft orientieren, womit der Kodex das Unternehmensinteresse weiterhin wohl an den angemessenen Belangen der Stakeholder ausrichten möchte. Aus wirtschaftsethischer Perspektive ist hier der subsidiäre, ökonomische Grundgedanke verankert, dass ein eigener Nutzen stets auch an Eigenverantwortung gebunden ist und umgekehrt. Von Werder bemerkt in seinem Kommentar zum DCGK dazu zutreffend, dass im einzelnen Entscheidungsfall die jeweils (unternehmens-)interessengerechte Lösung aus dem Kreis mehrerer Alternativen allein auf dieser Basis möglicherweise nicht identifizierbar ist.

In der Frühzeit des DCGK bereits diskutiert, aber erst in diesem Jahr hinzugefügt, ist drittens die Orientierung am Leitbild des „Ehrbaren Kaufmanns“. Damit soll ein „ethisch fundiertes, eigenverantwortliches Verhalten“ verbildlicht werden. Zweifel an der Brauchbarkeit des Symbols mit seiner eventuell romantischen Konnotation ergeben sich neben den bereits breit publizierten Einwänden auch aus der Historie. Der Begriff „ehrbar“ wurde seit dem Spätmittelalter, ebenso wie der Begriff „Ehrbarkeit“, als Titulatur für städtische Patrizier gebraucht - in der Ständegesellschaft dieser Zeit eine dem niederen Adel gleichstehende Gesellschaftsschicht. Die Gruppe der „Ehrbaren“ stellte die bürgerliche Amtsträgerschaft aus den reichsten Familien und angesehensten Geschlechtern. Eine moralische Qualifikation ist meines Erachtens daraus nur bedingt abzuleiten.

III. Ethisch fundiertes, eigenverantwortliches Verhalten? 
Der Aufsichtsrat mit einer Fähigkeit zur „independence of thought“ muss in der Lage sein, über den Tellerrand des Unternehmens und dessen Tagesgeschäft hinaus zu blicken, um seiner Rolle als Berater des Vorstands durch die kritische Qualität seiner Fragen gerecht zu werden. Eine ausgeprägte Fähigkeit zur Identifizierung strategischer Chancen und Risiken ist individuell und kollegial gefordert, gerade weil diese sich häufig im Unsichtbaren entwickeln. Angesichts einer Fülle ganz unterschiedlicher Situationen muss der Aufsichtsrat ethisch reflektieren können - das heißt, er sollte Strukturen und Kriterien entwickeln und verstehen, die helfen, Leitplanken auf dem Weg zur langfristigen Prosperität des Unternehmens zu schaffen.

Als Beispiel möge ein vom Vorstand stark favorisierter Unternehmenskauf im Rahmen eines Auktionsverfahrens dienen, bei welchem die Abgabe eines verbindlichen Angebots auf Basis begrenzter Informationen und in einem sehr kurzen Zeitfenster eingefordert wird. Die Zustimmung des Aufsichtsrats, der bis dato nur in groben Zügen informiert war, soll in einer kurzfristig angesetzten Telefonkonferenz eingeholt werden.

Ein sehr risikoaverses Aufsichtsratsmitglied, besonders wenn es zusätzlich noch mit einer starken Persönlichkeit ausgestattet ist, wird eine abschlägige Entscheidung ggf. schon aufgrund der Art des Auktionsprozesses, welchen er für nicht akzeptabel hält, oder aufgrund eines potenziellen juristischen Risikos unmittelbar einfordern, ohne sich näher mit den Chancen des Projekts beschäftigen zu wollen. Vermutlich wenigen Personen sind Untersuchungen der Universität Oxford im Fachbereich Moralpsychologie geläufig, die darauf hindeuten, dass Verantwortliche, die Entscheidungen auf Basis von Maximen treffen, welche wir aus der Kant’schen Ethik kennen, sich also primär an der Achtung von Normen und Gesetzen und nicht an den Konsequenzen des Handelns orientieren, intuitiv eine größere Vertrauenswürdigkeit innerhalb ihres Umfelds genießen. Sie gelten als seriös und werden so häufig auch Meinungsführer. Ein ablehnender Beschluss wäre hier zwar moralisch begründet, aber nicht ausreichend fundiert.

Ist der Vorstand aber sehr erfahren mit M&A-Transaktionen und nutzt das kurze Zeitfenster des Auktionsverfahrens für eine umfassende und stufenweise Information des Aufsichtsgremiums, wird dieses möglicherweise zu anderen Ergebnissen kommen. Wirtschaftspsychologen wie z.B. der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann zeigen, dass eine längere Reflexion zu einer anderen Nutzenabwägung führt. Er demonstriert weiterhin, dass nur ein extrem „hochtrainierter“ Entscheider mit schnellem, instinktiven Denken zum gleichen Ergebnis kommt wie nach langsameren Denkprozessen. Nur wenige Aufsichtsräte sind mit diesen Zusammenhängen vertraut und reflektieren sie! Aufsichtsräte müssen vermeiden, in die Falle instinktiven und stereotypisierenden Handelns zu tappen. So sollten z.B. Tischvorlagen zu wichtigen Entscheidungen grundsätzlich abgelehnt werden.

Ein wirklich exzellenter Aufsichtsrat wird zudem in erheblichem Maße die Fähigkeiten und Beweggründe der Befürworter innerhalb des Vorstands oder anderer Entscheidungsebenen analysieren und nicht nur ihrer/seiner Fachkompetenz (bzw. deren -illusion) vertrauen. Ist es der bis dato unerfüllte Wunsch, endlich eine Transaktion abzuschließen und damit die Wachstumsstory des Unternehmens zu verstärken, die zur Vorlage des Projekts geführt hat? Oder ist es ein Abschiedsprojekt eines Managers, der nicht mehr weit von der Pensionsgrenze ist, sich ein Denkmal setzen will, aber nicht mehr mit den Ergebnissen der langfristigen Integration des Akquisitionsobjekts zu leben hat? Fundiertes und verantwortungsvolles Handeln heißt hier z.B., die Genese und Motivation des Projekts genau zu hinterfragen. Eine Auseinandersetzung mit der Tugendethik des Aristoteles würde dem Aufsichtsrat dabei ggf. wertvolle Unterstützung bieten. Menschliche Tugenden sind nicht absolut, sondern sollen den Weg weisen, Handlungen über die Legalität hinaus kontext-und personenbezogen am Prinzip einer goldenen Mitte auszurichten. Mut z.B. bewegt sich so zwischen den extremen Polen von Feigheit und verantwortungsloser Tollkühnheit.

Die bewusste Reflexion der oben angeführten Themen sollte dazu führen, dass jenseits der Sachfragen einer solchen Transaktion eine Art ethischer Kompass zu einer besseren Entscheidungsfindung in die deutsche Praxis Einzug hält und das im DCGK geforderte, ethisch fundierte und eigenverantwortliche Verhalten von den Aufsichtsräten erfüllt wird. Das größte Hindernis auf dem Weg, dieses Ziel zu erreichen, ist sicherlich auch die zum Teil zu geringe zeitliche Verfügbarkeit der Aufsichtsräte, damit einhergehend mangelnde Kenntnis des Geschäfts und der Leistungsträger im Unternehmen. Der Weg zur Exzellenz ist lang und beschwerlich. Ericsson gibt als Faustformel ein bewusstes Üben von 10.000 Stunden an! Ohne die Zeit und die Bereitschaft, sich intensiv mit dem Unternehmen und seinen Geschäften auseinanderzusetzen, kann man als Aufsichtsrat nicht sein Metier meistern und die Forderung nach einem ethisch fundierten, eigenverantwortlichen Verhalten nicht erfüllen. 

Literaturhinweise: 

  • Ericsson, The Road to Excellence, 1996.

  • Everett et al., Inference of Trustworthiness from Intuitive Moral Judgments, JoEP 2016, S. 772-787.

  • Hegel, Die Chroniken der deutschen Städte: Die Ehrbaren und das Patriciat von Nürnberg, 1862.

  • Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, 2012.

  • Oermann, Wirtschaftsethik - Vom freien Markt bis zur Share Economy, 2015.

  • v. Werder et al., Kommentar zum Deutschen Corporate Governance Kodex, 2016.

Der Autor: 
Klaus F. Jaenecke
, langjähriger Multiaufsichtsrat, u.a. Aufsichtsratsvorsitzender der Hansgrohe SE, und Vorstandsmitglied von ArMiD - Aufsichtsräte Mittelstand in Deutschland e.V.
Quellenhinweis: Veröffentlicht in „Der Aufsichtsrat“ 09/2017, S. 124-125  https://recherche.aufsichtsrat.de/document.aspx?docid=AR1247614).

Weitere News